Unternehmerische Nachfolge in Kirgistan — Beobachtungen und Erkenntnisse
Es ist spannend und lehrreich, neue Kulturen kennen zu lernen. Unser “Pro bono”-Engagement für BPN (Business Professional Network) in Kirgistan gab uns die Möglichkeit, im Kontext der Unternehmensnachfolge einen tieferen Einblick in eine andere Kultur und in andere Traditionen zu gewinnen. Wir haben in Kirgistan vor Ort ein Seminar zum Thema Unternehmensnachfolge und anschliessend verschiedene Coachings mit Unternehmerinnen und Unternehmern durchgeführt (an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die professionelle Übersetzung von Deutsch auf Russisch und umgekehrt). Nach unserer Rückkehr sind wir der Frage nachgegangen, was anders ist, neu und lehrreich für uns in der Schweiz und für Kirgistan?
Unternehmerischer Spirit und hohe Flexibilität
Wir von der St. Galler Nachfolge durften ein Land und Leute kennen lernen, die in einem Umfeld unzähliger Umbrüche leben, darin aufgewachsen und davon geprägt sind. Die Auflösung der UdSSR verschaffte Kirgistan Unabhängigkeit von Russland. Das war ein grosser Schritt für das Land und das dahinter liegende Wirtschaftssystem. Die Verabschiedung von der Planwirtschaft führte zuerst in eine Krise. Angebot und Nachfrage mussten sich neu entwickeln und dafür musste ein eigener Rahmen geschaffen werden.
Wir bekamen den Eindruck, dass diese «Abgrenzung» zu Russland in Kirgistan identitätsstiftend ist für die Menschen, die im Land leben. Gleichzeitig – und dessen waren wir uns im Vorfeld nicht bewusst – gibt es im Land gegen 80 verschiedene Ethnien. Von der Unternehmerin mit südkoreanischen Wurzeln in der 3. Generation, über Mongolen, Russen, Kirgisen bis hin zu arabisch-stämmigen Personen – Kirgistan ist ein Land “nomadischer Vielfalt”.
Seit der Unabhängigkeit hat das Land mehrere Revolutionen erlebt. Dies ist der Kontext, wo Unternehmertum spriesst. Wir erlebten eine hohe unternehmerische Flexibilität (Branchenwechsel über die Zeit ist nicht selten), Aufbruchstimmung und den Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit, da die Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass das politische Klima sich rasch ändern und daher morgen alles anders sein kann.
Das ist ein grosser Unterschied zu unserer langen politischen Stabilität. Wir machten die Beobachtung, dass aus diesem Grund an verschiedenen Stellen «Sollbruchstellen» eingebaut oder verschiedene Vermögensbestandteile vorsorglich auf verschiedene Familienmitglieder übertragen werden, um sich als Familie möglichst breit abzusichern. Die Not macht erfinderisch und erfordert eine für uns beeindruckende Flexibilität.
Die Rolle der Frau in der Nachfolge
Mehrfach hörten wird die Formulierung: “Meine Tochter ist verheiratet und deshalb gehört sie jetzt zu einer anderen Familie, weshalb ich für sie finanziell nicht mehr verantwortlich bin.” Diese Tradition ist gerade in ländlichen Regionen noch sehr verankert. In unseren Gesprächen mit verschiedenen jungen Unternehmerinnen vor Ort gibt es heute z.B. Aussagen wie: “Ich werde nie heiraten, denn ich will nicht, dass das Vermögen meiner Herkunftsfamilie auseinandergerissen wird” oder “Ich habe mein eigenes Unternehmen gegründet und aufgebaut, weil ich von meiner Ursprungsfamilie nichts an Unterstützung bekommen habe, seit ich geheiratet habe.”
Westlich geprägte Werte prallen für eine junge Generation auf althergebrachte lokale Wertebilder und führen zu individuellen und eigenständigen Lösungsansätzen. Was uns ebenfalls auffiel, dass sehr viele Frauen als Unternehmerinnen unglaublich viel Verantwortung für Familie UND Unternehmen übernehmen. Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse weit zurück. Diese hohe Belastung über Jahre oder Jahrzehnte hinterlässt ihre Spuren.
Jugend vor Alter
Bei uns in der Schweiz hiess es oft: Der älteste Sohn übernimmt den Hof. In Kirgistan hörten wir oft die Formulierung, dass der jüngste Sohn das Unternehmen übernehmen wird (und eben nicht der Erstgeborene). Wir fragten nach: Warum der Jüngste? Der Hintergrund der Überlegung ist, dass der Jüngste noch am längsten leben wird und damit die finanzielle Unterstützung der Eltern länger sichergestellt ist. In vielen Familien ist der Versorgungsauftrag der Eltern an die nächste Generation übertragen, was wir so in der Schweiz nicht (mehr) kennen.
Fairness und Gerechtigkeit
Beim Thema Verteilungsgerechtigkeit haben wir mit den Unternehmerinnen und Unternehmern über unser westlich geprägtes Leistungs‑, Gleichheits- und Bedürfnisprinzip gesprochen. Die kirgisische Tradition sieht vor, dass das Unternehmen unentgeltlich an den jüngsten Sohn übertragen wird. In Bezug auf das Bedürfnisprinzip bedeutet dies, dass die finanzielle Vorsorge der Eltern durch die übernehmende Generation zu leisten ist – so wird traditionsgemäss der Ausgleich sichergestellt. Das Gleichheitsprinzip steht da weit hinten an – gefolgt vom Leistungsprinzip.
Spannend für die Teilmehmer:innen aus Kirgistan war die Erkenntnis, dass in der Schweiz ein Unternehmen auch innerfamiliär oft an Nachkommen verkauft wird und nicht unentgeltlich übertragen wird (z.B. Schenkung). In der Schweiz haben wir damit einen Lösungsansatz, der das Leistungsprinzip berücksichtigt. Einzelne Teilnehmende haben den Gedanken unmittelbar aufgegriffen und verfolgen die Idee weiter. Dies könnte ein möglicher Game-Changer für einzelne innerfamiliären Diskussionen sein, deren Resultat wir gerne in 3–4 Jahren in Erfahrung bringen werden.
Verständigung ist mehr als Worte
Wir hatten das Glück, wunderbare interkulturelle Übersetzerinnen zu haben, die uns die Kommunikation Deutsch/Englisch – Russisch überhaupt ermöglicht haben. In den Gesprächen mit den Unternehmer:innen haben wir schnell gemerkt, dass es für die Verständigung noch ganz andere Komponenten braucht: Wir sind auf eine Sprache und Ausdrucksweise getroffen, die gespickt ist mit warmen und emotionalen Formulierungen und Bildern. Wir haben dies übernommen, was zu einem Austausch von Herz zu Herz führte, der uns tief berührt hat.
Genauso berührend war die Gastfreundschaft und die Dankbarkeit für unser Wirken, die wir erfahren durften: Sei es der Tee oder Kaffee mit Gebäck nach den Coaching-Gesprächen, die Umarmungen unter Frauen oder Geschenke lokaler Handwerkskunst, die uns nun auch hier in der Schweiz an Kirgistan erinnern.
Fazit
Wir blicken auf fünf tolle und engagierte Tage zurück und bedanken uns an dieser Stelle nochmals herzlich bei allen Mitarbeitenden vor Ort von BPN Kirgistan. In den letzten 25 Jahren haben sie dank ihrem Engagement eine tolle Aufbauarbeit geleistet und viele unternehmerische Existenzen ermöglicht. Wenn diese Unternehmen in die nächste Generation übertragen werden können, dann ist ein bedeutender wirtschaftlicher Schritt gemacht, denn es gibt noch keine Nachfolge-Tradition oder ‑Erfahrung wie bei uns in der Schweiz. Es freut uns, dass wir dazu einen Beitrag fürs Gelingen leisten und entsprechende Impulse setzen durften.
Fotonachweis: Claudia Buchmann, Frank Halter, BPN Kirgistan