Interview mit Adrian Borter, Country Director von BPN Nicaragua
Wie sieht ein ganz normaler Arbeitstag bei dir aus? Gibt es das überhaupt?
Adrian: Nicht wirklich. Ich lebe mit meiner Familie in einer ländlichen Region, etwa 2,5 Stunden von Managua entfernt. Wenn ich von zu Hause arbeite, ist mein Tag etwas strukturierter – dann kümmere ich mich um Administration, bereite Seminare vor, schreibe Berichte und bin per Video oder Telefon mit dem Team in Managua im Austausch. Bin ich vor Ort im Hauptstadtbüro, wird’s abwechslungsreicher: Ich führe Coachings durch, gebe Seminare, investiere ins Team und treffe sowohl bestehende als auch potenzielle neue Unternehmer:innen. Da gleicht kein Tag dem anderen.
Was gehört alles zu deinen Aufgaben? Wofür bist du zuständig?
Adrian: Die Liste ist lang. Ich leite unser lokales Team, bilde neue Mitarbeitende und Coaches aus, entwickle und überarbeite Seminare und bin Ansprechpartner für viele organisatorische Themen – von der Budgetverantwortung über NGO-Bewilligungen bis hin zu Reporting-Prozessen. Ich begleite auch Unternehmer:innen direkt, führe Coachings durch, unterstütze bei inhaltlichen Themen und helfe, unser Programm weiterzuentwickeln. Darüber hinaus bilde ich Coaches aus anderen BPN-Ländern weiter – per Video-Calls – und bin innerhalb von BPN international für unsere Coaching-Säule zuständig. Auch die Koordination mit Referent:innen aus der Schweiz sowie dem Unternehmerverein in Nicaragua liegt bei mir.
Gibt es eine besondere lokale Tradition oder einen Geschäftsbrauch, den Sie faszinierend finden?
Adrian: Ja, definitiv. Smalltalk hat hier einen ganz anderen Stellenwert als in der Schweiz. Es ist normal, lange und persönlich ins Gespräch einzusteigen, bevor man zum eigentlichen Punkt kommt. Und Kritik oder Ablehnung wird selten direkt ausgesprochen – vieles geschieht eher indirekt. Das erfordert von uns viel kulturelles Feingefühl und vor allem Geduld.
Welche Hürden müssen Unternehmerinnen in Nicaragua am häufigsten überwinden?
Adrian: Die grösste Herausforderung ist ganz klar die Mitarbeiterführung. Viele Unternehmen kämpfen mit einer „Hire and Fire“-Mentalität. Es fehlt oft an Verbindlichkeit und Eigeninitiative bei den Mitarbeitenden, und Kündigungen können kurzfristig ausgesprochen werden. Unsere wertebasierte Arbeitsweise bei BPN zielt genau darauf ab, hier nachhaltige Lösungen zu schaffen – durch Coaching, Wertearbeit und langfristige Begleitung.
Wenn Sie selbst ein Unternehmen in Nicaragua gründen würden – in welcher Branche und warum?
Adrian. (lacht) Ich bin ehrlich gesagt eher kein klassischer Unternehmer – ich schätze die Struktur bei BPN. Wenn überhaupt, würde ich gemeinsam mit meiner Frau ein Unternehmen gründen – sie bringt da viel mehr Unternehmergeist mit. Wir würden wahrscheinlich etwas im Bereich landwirtschaftliche Veredelung machen. In Nicaragua gibt es viele hochwertige Rohstoffe wie Mangos, die jedoch kaum weiterverarbeitet werden. Da steckt viel Potenzial. Ich würde wohl Mangos trocknen, hübsch verpacken und verkaufen.
Welche neuen Projekte oder Initiativen hat BPN Nicaragua im Jahr 2025 gestartet?
Adrian: Wir haben unser Marketing und den Verkaufsprozess neu aufgesetzt, um gezielter neue Teilnehmer:innen zu erreichen. Zudem prüfen wir aktuell den Einsatz von Künstlicher Intelligenz – z. B. für die automatische Beantwortung von Anfragen ausserhalb der Bürozeiten. Dabei arbeiten wir mit einem lokalen Experten zusammen. Langfristig möchten wir diese Technologien auch direkt in unsere Seminare integrieren und Unternehmer:innen damit vertraut machen.
Wie hat sich die wirtschaftliche Situation in Nicaragua seit Jahresbeginn entwickelt? Gibt es Veränderungen, die Unternehmerinnen besonders betreffen?
Adrian: Ein bedeutender Einschnitt war das Ende eines US-Programms, durch das viele Nicaraguaner:innen zeitweise in den USA arbeiten und Geld zurück in die Heimat schicken konnten. Diese Rücküberweisungen machten bisher einen grossen Teil des Bruttoinlandsprodukts aus.
Jetzt wird weniger Geld ins Land gesendet werden, und gleichzeitig könnte die Arbeitslosigkeit steigen, weil mehr Menschen im Land Arbeit suchen. Für gut ausgebildete Fachkräfte könnte das aber auch neue Chancen bedeuten – sie bleiben vermehrt im Land. Die langfristigen Auswirkungen bleiben abzuwarten.
Welche Branchen oder Geschäftsfelder haben sich in Nicaragua als besonders wachstumsstark erwiesen?
Adrian: Momentan verzeichnen wir in der Bauwirtschaft und im Tourismus positive Entwicklungen. Gerade durch Rücküberweisungen konnten viele Menschen in Immobilien investieren. Gleichzeitig ist das aber auch eine gewisse Blase – beide Branchen reagieren empfindlich auf wirtschaftliche Schwankungen und sind nicht besonders krisenresistent.
Welche Rolle spielen Digitalisierung und technologische Innovationen für Unternehmerinnen in Nicaragua im Jahr 2025?
Adrian: In Sachen Digitalisierung holt Nicaragua auf – aber wir sind noch lange nicht da, wo wir sein könnten. Viele unserer Programmteilnehmer:innen nutzen soziale Medien bislang kaum oder nicht strategisch. Der Fokus liegt aktuell noch darauf, klassische Werbung durch digitale Kanäle zu ersetzen.
Künstliche Intelligenz ist zwar ein Thema, wird aber in der Praxis noch wenig eingesetzt. Die Diskussion dreht sich hier auch nicht nur um ChatGPT, sondern zunehmend auch um günstigere, oft chinesische Alternativen – was besonders für kleine Unternehmen interessant sein kann.